Dust in the Wind
Dust in the wind
Am Anfang ist alles in Ordnung. Oder etwa doch nicht? Am Anfang jedenfalls steht da ein Würfel, dessen Kantenlängen ziemlich genau einen Meter messen. Dieses Maß allerdings behält seine Gültigkeit nicht ewig, denn es ist auf – besser: aus Sand gebaut. Sandy heißt entsprechend die Skulptur, die Lutz Kirchner entworfen hat. Um sie zu erschaffen, presst er einen Kubikmeter ungewaschenen, gebrochenen, lehmhaltigen Sand mit Wasser in eine Form, um ihn anschließend wieder aus ihr zu befreien.
Sandy sollte sollte eigentlich im Rahmen des Rumpenheimer Kunstpreises in der Schlosskirche des Stadtteils von Offenbach ausgestellt werden. Dann kam Corona. Aber dazu später mehr.
Ein Sandwürfel in einer Kirche, da ist die Idee eines Altars schnell im Kopf. Dieser Altar wäre allerdings ein besonderer geworden, denn Altäre weisen ja eigentlich Richtung Unendlichkeit. Nur ist Unendlichkeit Sandys Sache nicht, denn sobald die stützende Hülle entfernt ist, beginnt der Verfall der mehr als zwei Tonnen schweren Verbindung, die eben doch nur aus Milliarden einzelner Sandkörner besteht. Risse zeigen sich, Stücke brechen heraus, und irgendwann bleibt nur noch ein Sandhaufen.
Der Würfel wird zum Symbol für Vergänglichkeit, Verfall und Zusammenbruch, und nicht nur in einer Kirche wirft er Fragen nach Vergänglichkeit und Ewigkeit auf. Die Unkalkulierbarkeit des in Gang gesetzten Prozesses lässt an all das denken, das gerne für unzerstörbar gehalten wird: Werte, Traditionen, aber auch Bauwerke, schlicht alles, was menschengemacht ist. Dennoch kommt dieses Kunstwerk nicht wie ein Bilderstürmer daher, der etwas Neues mit der Keule vermitteln will. Sandy verströmt Ruhe und Gelassenheit, etwas geradezu Meditatives geht von dem Würfel aus.
Allerdings ist das Kunstwerk nie in der Schlosskirche Rumpenheim angekommen. Der Corona-Pandemie wegen hat der Kunstverein das Projekt in der ursprünglichen Form abgesagt. Ansammlungen Kunstinteressierter durfte es nicht geben. Damit war die ursprüngliche Idee obsolet, es bedurfte einer neuen. Sandy wird nun im Garten des Künstlers mit Wind und Wetter konfrontiert – vor dem Hintergrund einer Abbildung der Schlosskirche von Rumpenheim. Der Verfall wird natürlich ein anderer sein als in dem Sakralbau, und auch das ist etwas, was die Skulptur interessant macht: Mit jedem Ort, an dem sie steht, geht sie eine besondere Beziehung ein.
Es sind die Einfachheit der Idee und die wechselnden Sinnzusammenhänge, die die Sandwürfel so interessant machen. Sandy berührt mit ihrer Schlichtheit auf vielerlei Ebenen, ist voller Ambivalenz und verselbständigt sich, sobald die schützende Hülle entfällt. Und auch wenn der Sandwürfel selbst nicht mal eben transportiert werden kann, ist die Idee dahinter höchst mobil: In einer Gruppenausstellung in der Kunststation Kleinsassen warf Sandy die Frage auf, wo der Sockel eines Kunstwerks aufhört und die Skulptur beginnt. In Heiligenhafen, unmittelbar an der Meeresküste, verwies das Kunstwerk auf die Kraft der Natur in Form von Erosion durch Wind und Wasser, auf die menschengemachte Kraft des Wassers in Form steigender Meeresspiegel, weckte aber auch spielerische Assoziationen an Sandburgen.
Mit dieser Wandelbarkeit im doppelten Wortsinne ist der Sandwürfel ein schönes Beispiel dafür, dass in einem Kunstwerk nicht nur die Ideen des Künstlers stecken. Der Betrachter gibt ihm Vielfalt der Bedeutung. Der Sandwürfel, der im Garten von Lutz Kirchner seinem Vergehen ausgesetzt wird, kann von jedem dabei beobachtet werden, der Internetzugang hat. So kommt, wenn man möchte, noch eine weitere Bedeutungsebene hinzu, die mit Stichworten wie Überwachung und Allgegenwärtigkeit skizziert werden könnte. Eine Webcam stellt alle 5 Minuten ein Bild ins Netz Überraschungen nicht auszuschließen: Bei einem Testlauf spazierte eine Spinne vor der Kamera herum, die schönste Assoziationen an alte Horrorfilme weckte. Derlei Unvorhergesehenes ist vielleicht auch wieder Ausgangspunkt für künstlerische Ideen.
Sandy im Netz ist der Versuch, das ursprünglich in einer Kirche vorgesehene Symbol des Verfalls virtuell nachempfindbar zu machen. Und es wird dazu wiederum zu einem Symbol der Vergänglichkeit, denn was für alles Dingliche gilt, gilt offenbar auch für Ideen. Wie sangen Kansas einst so schön: Everything is dust in the wind.
Text: Heiko Schimmelpfeng (Journalist, Kassel) über Lutz Kirchners Skulptur „Sandy“